Klartext zur russischen Invasion in der Ukraine auf der Podiumsdiskussion in Dachau 24. November 202426. November 2024 Am 22.11.2024 fand im Dachauer Ludwig-Thoma-Haus eine Podiumsdiskussion zum Thema „Den Frieden gewinnen: Die Ukraine und Europas Sicherheit“ statt. Namhafte Personen saßen auf dem Podium: Dr. Anton Hofreiter: bekannter Bundestagsabgeordneter von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Vorsitzender des Bundestagsausschusses für die Angelegenheiten der EU. Er kam gerade zurück von einer Reise nach Armenien und Georgien. Britta Jacob: Direktkandidatin für die Bundestagswahl 2025 von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den Wahlkreis Dachau/Fürstenfeldbruck mit langjähriger Erfahrung in Außen- und Sicherheitspolitik. Sie war z.B. persönliche Referentin von Annalena Baerbock. Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk: Historiker und Publizist mit ukrainischen Wurzeln. Er gilt als einer der renommiertesten Forscher zur DDR-Geschichte und Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das Podium wurde komplettiert durch Alexander Heisler, Kreisvorsitzenden der GRÜNEN Dachau, der durch die Veranstaltung führte. Ursprünglich war Dr. Claudia Major, Expertin für Sicherheitspolitik, auch auf dem Podium geplant. Leider konnte sie den Termin allerdings wegen langer Verspätung ihres Zuges nicht wahrnehmen. Alexander Heisler, Dr. Anton Hofreiter, Britta Jacob und Dr. Ilko Kowalczuk im gut gefüllten Ludwig-Thomas-Haus Die Veranstalter waren überwältigt von der hohen Zahl an Besucherinnen und Besuchern: Neben den ca. 160 Personen, die vor Ort waren, verfolgten ebenso viele Menschen den Live Stream auf YouTube. Zu Beginn erläuterte Anton Hofreiter, wie die aktuelle Situation in der Ukraine sich entwickle: Die Zivilbevölkerung habe jetzt den härtesten Kriegs-Winter vor sich, da russische Angriffe einen Großteil der Stromversorgung des Landes zerstört haben. Auch die in der Ukraine weit verbreitete Fernwärme sei nur noch in geringem Maße einsatzfähig, weil Putin alle Heizkraftwerke zerstört habe. Die Menschen wünschten sich also nichts sehnlicher als ein Ende des Krieges. Allerdings – und das höre er immer wieder bei Gesprächen mit Soldaten – wissen sie – auch nach den Erfahrungen der Verluste, was ihnen drohe, wenn Städte oder Dörfer von den russischen Soldaten besetzt werden: Vergewaltigungen, Verschleppungen, Ermordungen. Deswegen müssten die Ukrainer – auch trotz der Aussichtslosigkeit in Anbetracht der Übermacht – weiter kämpfen – und sie wissen, wofür sie das tun. Auf russischer Seite kämpften die Streitkräfte primär für einen Auftrag, den sie durch die Propaganda bekommen hätten. Auf der anderen Seite, müsse man Putins Ziele verstehen, um an einer diplomatischen Lösung arbeiten zu können. Und diese seien: Die Errichtung eines russischen Großreichs. Putin träume davon, als derjeniger in die Geschichtsbücher einzugehen, der ein großes russisches Imperium erschaffen habe, dessen Grenzen deutlich weiter im Westen liegen als heute. Ilko Kowalczuk sprach von Putins Traum „von Lissabon bis Wladiwostok“. Die Zerstörung der Demokratie: Putins größte Angst sei die vor der eigenen Bevölkerung. Deswegen müsse Demokratie (zumindest) in seiner unmittelbaren Nähe zerstört werden. Die Zerstörung der regelbasierten Ordnung. Das betreffe alle Vertragssysteme und auch die Existenz der Europäischen Union. Deswegen müsse man, damit die Ukraine mit Putin Verhandlungen führen könne, die Ukraine in eine Position der Stärke versetzen. Zwar seien aus unserer westlichen Sicht genügend Gründe auch für Putin gegeben, Frieden zu suchen – seien es nur die 1.500 russischen Soldaten, die jeden Tag verletzt oder getötet werden. Aber dieses Argument zeige eben nur unsere Sichtweise. Für Putin gelte dieses Argument nicht, da er im Geschichtsbuch für seine Erfolge gefeiert werden wolle und dann spielen Verluste keine Rolle. Ilko Kowalczuk, selbst in der DDR geboren und aufgewachsen, räumte mit der wiederholt aufgestellten These auf, dass ostdeutsche Ministerpräsidenten Putin besser verstehen würden. Eben die sogenannten Putin-Versteher wie Herr Kretschmer und Kollegen würden gar nichts verstehen. Wenn Putin die Demokratie zerstören wolle, könne man halt ihm in Verhandlungen nicht einfach nachgeben. Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Element In der damaligen DDR sei auch nichts so verhasst gewesen wie alles, was mit der Sowjetunion zusammen gehangen habe. Auch wenn er an einem Abend nicht ins Detail gehen konnte, versuchte Kowalczuk zu erklären, warum im Osten Deutschlands so viele Menschen Parteien wie BSW und AfD wählen würden: Man müsse verstehen, dass die Umstellung von einer industriellen Gesellschaft in eine Dienstleistungs-Gesellschaft, wofür z.B. Nordrhein-Westfalen dank großzügiger Kohle-Subventionen mehrere Jahrzehnte Zeit hatte, im Osten innerhalb extrem kurzer Zeit vollzogen wurde, was natürlich schmerzhaft war. Insbesondere Wahrheiten, die bis dahin gegolten hätten – wie z.B. keine Arbeitslosigkeit – seien über Bord geschmissen worden. Deswegen seien viele erschüttert und hätten Angst, gerade Gewonnenes wieder zu verlieren. Daraus habe sich ein Hass auf den Westen und seine Institutionen entwickelt. Deswegen würden sich diese Personengruppen mit dem größten Feind des Westens – Putin – verbünden. Aber auch in den westlichen Gesellschaften seien Fehler gemacht worden, weil sie Putin falsch einschätzten. Um zu verdeutlichen, dass Putin tatsächlich keine Angst vor der NATO habe und diese Argumentation vorgeschoben sei, erzählte Kowalczuk, dass Putin als Reaktion auf den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland – mit 1400 km langer gemeinsamer Grenze mit Russland – die Soldaten, die an dieser Grenze stationiert waren, an die ukrainische Front verlegt habe. Auf der anderen Seite führe Putin viele hybride Angriffe auf die Demokratien und auf uns. Umso schlimmer sei die Politik der BSW und AfD, aber auch das Einknicken der CDU und SPD vor den Forderungen von Sarah Wagenknecht, die Kowalczuk als „Sektenführerin“ bezeichnete. Man mache mit den Feinden der Demokratie gemeinsame Sache. Statt dessen bräuchten wir aber eine wehrhafte Demokratie! Dr. Anton Hofreiter und Britta Jacob auf dem Podium Die politischen Konsequenzen für Deutschland stellte Britta Jacob in den Mittelpunkt: „Unsere Unterstützung für die Ukraine sind keine Almosen, sondern Investitionen in unser aller Sicherheit und Freiheit in Europa. Einen gerechten, nachhaltigen Frieden in der Ukraine wird es nur geben, wenn wir in die Stärken Europas und der NATO investieren und zusammenstehen gegen Unrecht, Willkür und Gewalt.“ Dabei übte sie vehement Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz. Seine „Zeitenwende“-Rede, für die er ja viel Lob bekommen hatte, zeige bereits sein Zögern und eine Haltung, die den Notwendigkeiten in der Ukraine und auch unseren eigenen politischen Interessen nicht Rechnung trage: So habe er gesagt, „wir erleben eine Zeitenwende“. Das macht deutlich, dass er diese von außen auf uns hereinbrechen sah. Es sei nicht so, dass wir handelten und die Zeitenwende aktiv gestalten würden. Genau das müsse aber der Anspruch eines deutschen Bundeskanzlers sein! Er formulierte als Ziel, dass die Ukraine nicht verlieren dürfe. Aber eigentlich müsse das Ziel lauten, dass die Ukraine gewinnen müsse: Die Ukraine sei der angegriffene Staat und – auch wenn man die obigen 3 Ziele Putins sehe – sei es in unserem ureigensten Interesse, dass die Ukraine gewinne. Scholz sage immer wieder, Deutschland unterstütze die Ukraine, solange es nötig ist. Aber das „es“ sei überhaupt nicht definiert. Das sei natürlich ein großer Fehler von Scholz, da man ja nur eine Strategie auf ein Ziel ausrichten könne, wenn man das Ziel auch klar formuliere. Britta Jacob stellte auch klar, dass Scholz‘ Verstecken hinter Umfragen auch ein Zeichen seiner Führungsschwäche sei: Man müsse als verantwortungsvoller Politiker oder Politikerin der Bevölkerung reinen Wein einschenken, klar erklären, was notwendig sei und die Zusammenhänge aufzeigen. Wenn man das tue, könne man führen und die Bevölkerung mitnehmen. Das habe sich auch an Umfragen nach der „Zeitwende“-Rede gezeigt, wo er es einmal – wenn auch unzureichend – gemacht habe. Außerdem war es Britta Jacob wichtig zu erwähnen, dass Deutschlands Reaktion auch vom Ausland genau beobachtet werde: So habe China einen genauen Blick auf die Reaktionen des Westens auf den Ukraine-Krieg und werde in der Taiwan-Frage entsprechend handeln. Wenn man weiter in der Geschichte zurückgehe, erleben wir heute viele Märchen, die wir uns gegenseitig erzählten, beleuchtete der Historiker Kowalczuk: Heute werde vieles als unausweichlich dargestellt – auch Angela Merkel nannte vieles alternativlos. Man müsse aber die Fehler der Vergangenheit erkennen, damit man für die Zukunft lernen könne. Es habe immer Menschen gegeben, die andere Wege vorgeschlagen haben. Bei der Wiedervereinigung sei z.B. er selbst ein Freund einer langsameren Variante gewesen, die zunächst eine Demokratie in der DDR aufgebaut hätte. Dr. Ilko Kowalczuk gibt Britta Jacob sein neues Buch „Freiheitsschock“ Bei der Russland-Politik der Merkel-Jahre habe es ebenfalls Stimmen gegeben, die z.B. vor Nord Stream 2 gewarnt hatten – sowohl aus dem Inland, dabei viele von den GRÜNEN, als auch aus dem Ausland, insbesondere von Staaten, die geographisch näher an Russland liegen. Diese Situation, dass Deutschland zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine knapp 50% seiner fossilen Energien aus Russland bezogen habe, nutzte Anton Hofreiter dazu aufzueigen, dass wir auch stolz sein können, was wir als drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt geleistet haben: Heute importieren wir aus Russland keine fossilen Enrgien mehr – zwar gezwungenermaßen, da Putin sie uns nicht mehr liefert. Aber wir haben diesen Prozess geschafft, ohne dass es zu Blackouts oder Zwangsabschaltungen von Gas gekommen sei, wenn es auch natürlich in einer solchen Situation zu starken Preisanstiegen gekommen sei. Aus dieser wirtschaftlichen Stärke Deutschlands erwachse auch eine Führungsverantwortung, die in Europa auch von den anderen Staaten eingefordert werde, wir aber bisher nicht nachkommen, wie Britta Jacob ja bereits vorher eindrucksvoll dargelegt habe. Die Podiumsdiskussion auf Insta Live. Im Anschluss konnten noch Fragen im Saal und im Internet gestellt werden, die von den Personen auf dem Podium dann beantwortet wurden. So wurde die Veranstaltung als sehr faktenbasiert gelobt, und dass deutlich den Ursachen nachgegangen woden sei und die Zusammenhänge aufgezeigt worden seien. Damit verbunden gab es die Frage, warum das in deutschen Talkshows nicht der Fall sei. Die Antwort war, dass in den Talkshows auch die Einschaltquoten und die Klick-Zahlen extrem wichtig seien – und diese erreiche man am besten mit polarisierenden populistischen Positionen, wie z.B. denen der Frau Wagenknecht, auch wenn sie selbst noch gar keine politische Erfahrung in irgendeiner Regierung habe sammeln können. Ilko Kowalczuk sagte, dass er keine Auftritte in Talkshows wahrnehme, wenn dort Anti-Demokraten säßen. Das erwarte er auch z.B. von den GRÜNEN. Toni Hofreiter nahm den Ball auf und erklärte, dass nicht nur Politikerinnen und Politiker hier eine Aufgabe hätten. Statt dessen sei klar, dass die Bevölkerung genau die Politikerinnen und Politiker bekäme, die sie wählten – nicht unbedingt, die sie haben wollten, aber die, die sie wählten. Insofern sei es wichtig, bei der anstehenden Bundestagswahl demokratisch zu wählen und sich gut zu überlegen, wem man die eigene Stimme gebe! Wie bereits erwähnt, wurde die Diskussion live übertragen. Sie kann weiterhin auf YouTube angesehen werden. Aufgezeichnet von Martin Cremer Den Frieden gewinnen: Die Ukraine und Europas SicherheitPodiumsdiskussion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDatum & Uhrzeit: 22. November 2024, 18:00 – 19:45 UhrOrt: Ludwig-Thoma-Haus, Augsburger Str. 23, 85221 DachauPodiu…